Obwohl, wie die Kunstgeschichte demonstriert, der Totenschädel als Einzelstück wirkungsvoll inszeniert werden kann, tendiert er eigenartigerweise zur Addition, ja Massierung. Wer einen sein Eigen nennt, gibt sich nur ungern damit zufrieden, will mehr davon, will Akkumulation, Multiplikation, tendiert zum Sammler.

In seiner ausgreifenden Rauminszenierung „Das Lager“ scheint Josefh Delleg die bedenkliche Seite der Sammelleidenschaft anzusprechen. Mit diesem ort- und zeitlosen Depot – angesiedelt irgendwo zwischen Supermarkt und Katakombe, Ersatzteillager und Gedenkort, Archiv und Vorratskeller – lotet der Künstler den Assoziationsrahmen seines Arrangements vieldeutig aus. Jemand hat irgendwo ein Schädeldepot angelegt: hat die Objekte seiner Zuwendung in einem Regalsystem aus roh gezimmerten Holzlatten verstaut und für gerade soviel Licht gesorgt, dass das präsentierte Sammlungsgut nicht gänzlich im Dunkel verschwimmt. Was es aber mit dieser improvisiert wirkenden Vorratshaltung auf sich hat, verbirgt sich in der Schädeldämmerung. Zwar waltet über diesen Gestellfluchten sichtlich eine Systematik, die eine Inventarisierungsabsicht deutlich werden lässt, doch die Organisationsstruktur scheint keinen nachvollziehbaren Kriterien zu folgen. Die Provenienz der wachsbleichen Objekte – in Reih und Glied sortiert – ist so unsicher wie ihr Schicksal: Wer ist hier einlagerungs- und entnahmeberechtigt? Wie der Zweck der Akkumulation im Zwielicht der schwachen Lampen bleibt, so auch der des Umgangs mit den Einzelstücken. Sollen den Objekten Informationen abgewonnen werden? Handelt es sich darum, sie zu Befragungen – wie bei Murakami – bereit zu halten? Erfolgt hier eine Musealisierung zu wissenschaftlichen Zwecken oder zu zweifelhaften Machenschaften des Pseudowissenschaftlichen – oder stehen gar Praktiken des Kannibalischen im Raum? Möglicherweise aber ist die Banalität zivilisatorischer Schrecknisse doch näherliegend, denn die penible Beschilderung verweist auf den Komplex des Bürokratischen, auf verwaltungstechnische Erfassungsvorgänge und administrative Kontrolle über das Leben und darüber hinaus. Die Etikettierung zeugt von einem minutiösen Dokumentationswillen, vom Erfüllen vorgegebener Verfahrensnormen bei der Registratur dieser Karteileichen.

Jemand scheint für diesen Arbeitsplatz verantwortlich zu sein: registriert Zu- und Abgänge, führt Buch und ordnet ein. Das Ganze – von dem freilich nur ein Bruchteil zu erkennen ist – unterliegt einer unentschlüsselbaren Systematik.

Die Betrachtenden bleiben Belauscher mit dem Gefühl des Unstatthaften: zufällige Zeugen eines Geschehens, das nicht für ihre Augen gemacht scheint.

Das Schweigen der Schädel provoziert Mutmaßungen über ihre Funktion. Wer sich in diese Schädelstätte verirrt, ist auf Vermutungen über das zu Sehende angewiesen; doch sein Sinn erschließt sich nicht bei betrachtendem Umgang, sondern nur beim Eintauchen in die Atmosphäre des Rätselhaften.

Das Labyrinth der Regale folgt einer Symmetrie von barockem Zuschnitt, ist in alle Richtungen fortsetzbar zu denken. Das Einsehbare wirkt wie ein Ausschnitt aus einem Kontinuum ohne Beginn und Ende, das nur einen Teilaspekt seiner selbst preisgibt. In dieser allseitigen Unabgeschlossenheit ist das Lager möglicherweise ein Pendant zu Jorge Luis Borges’ unendlicher Bibliothek von Babel, die alles enthält, was jemals geschrieben wurde und geschrieben werden wird. Haben wir hier also die unendliche Katakombe von Babel vor uns: winziger Ausschnitt des unendlichen Kontinuums all derjenigen, die jemals gelebt haben und leben werden?

Josefh Dellegs reale Bezugsgrößen sind die Beinhäuser und Katakomben, die mit ihren Schädelwällen den Lebenden die Zukunft verbarrikadieren: verknöcherte Barrieren, angesichts derer es sich verbietet, das subjektive Unsterblichkeitsgefühl aufrecht zu erhalten, Knochenmauern, an denen jedes Einmaligkeitsbewusstsein zerschellt.

„Das Lager“ absorbiert phrenologische bzw. medizinische Sammlungen genauso wie gewisse Stammespraktiken der Ahnenaufbewahrung bei polynesischen Naturvölkern, von denen Forschungsreisende berichteten: Nicht nur, dass diese auf Kopfjagd gehen, um sich auf magische Weise die Lebenskraft ihrer Gegner einzuverleiben – die Schädel werden auch gesammelt und wie Trophäen in Regalen aufbewahrt. So hat beispielsweise ein Dorfältester in Urama auf Papua, Neu-Guinea, ein Gestell gezimmert, auf dem er in mehreren Ebenen die Schädelausbeute seines Stammes eingelagert und als Beweismaterial für die gemeinsam angehäufte Macht öffentlich zur Schau gestellt hat. Und beim Stamm der Marind-anim „war es Sitte, für jedes Neugeborene einen Kopf zu jagen. Das Kind brauchte einen Namen, und der Name mußte von jemand anderem übernommen werden, der um der Fortdauer willen sterben mußte. Der Name würde weiterleben.“ Dieser Brauch war „der Versuch, sich einer Homöostase der Lebenssubstanz und der Fortdauer ihrer Wirksamkeit zu versichern. So bildeten persönlicher Name und Kopf oder Totenschädel eine einheitliche machtvolle Wesenheit. Deshalb hatten diese Menschen Totenschädel zu ganzen Galerien zusammengestellt, eine klug ausgedachte Einrichtung, um die kollektive Kraft des Stammes zum Ausdruck zu bringen. Für sie erfüllte diese Art des Sammelns und Vorzeigens ein unumgängliches, Ich-stützendes Bedürfnis.“ (Werner Muensterberger: Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft. Berlin 1995)

Aus: Harald Kimpel (Hg.): Hamlet Syndrom: Schädelstätten. Marburg 2011

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Installation im Marburger Kunstverein
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Ausschnitt, Kunstverein Marburg
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