'nichts ist'           

Städtische Galerie Eichenmüllerhaus Lemgo

Josefh Delleg hat sich selbst, die Ausstellung, die wir heute eröffnen, und uns alle dem
NICHTS unterstellt. Ein einleuchtender Wortlaut informiert uns wie eine Reklameschrift,
dass hier nichts zu holen ist. Die lakonische Mitteilung annonciert scheinbar den Ausverkauf
von Ideen, das Ausbleiben einer Leistung – und riecht gelinde nach Provokation! Dieses
Neon-Zeichen (eine erhellende Aussage und zugleich ein erstes Exponat) verweigert ein
Gebrauchswertversprechen: Es macht Erwartungen zunichte – oder aber schraubt sie hoch.
Denn „nichts ist“ – dieser kürzest mögliche und in seiner Kürze sogar noch doppeldeutige
Satz besagt einerseits, dass es das NICHTS doch in irgend einer Weise gibt, dass es durchaus
ETWAS ist. Und er behauptet gleichzeitig, dass alles Nichts sei, dass ein Sein nicht
vorhanden oder doch zumindest nichtig sei: Jedenfalls ein Nihilismus, der noch in der
Negation die Bedeutung des Negierten bestätigt, eine Verneinung, die ihren Gegenstand –
eben das Nichts – seinsversessen bejaht.
In derart hirnzermarternde Widersprüche ist die Beschäftigung mit dem Nichts seit der Antike
verwickelt. Groß geschrieben und mit bestimmtem Artikel versehen, gehört DAS NICHTS zu
den meistdiskutierten Gegenständen der (keineswegs nur abendländischen) Denktradition.
Parallel zu einer Philosophie, die das Sein zu deuten beansprucht, hat sich eine entwickelt, die
das Gegenteil zu fassen und zu bestimmen sucht, um diesem irritierenden ontologischen
Extremfall mit dialektischer Vernunft zu begegnen und ihm wenn schon nicht materiell, dann
wenigstens verbal auf die Schliche zu kommen: ein gründliches Denken, das sich mit
Grundfragen herumschlägt wie der, warum denn das Sein besser sein soll als das Nichtsein,
und was das ETWAS dem NICHTS überlegen macht. Über nichts hat man sich so viele
Gedanken gemacht wie über das Nichts: über die Frage also, warum überhaupt etwas ist und
nicht vielmehr nichts.
Und dieses NICHTS – die ständige Begleitung des ETWAS, wobei das eine Voraussetzung
des anderen ist und beide ohne einander nicht denkbar sind – dieses Nichts also wiegt bei
genauerer Betrachtung weitaus schwerer als sein materieller Gegenpart: Denn gegenüber dem,
was es alles nicht gibt, ist das bisschen, das es gibt, verschwindend gering: Einem
unendlichen Nichts steht das wenige Etwas (als Ausnahme von der Regel, als der rare, in
hohem Maße unwahrscheinliche Sonderfall) unverhältnismäßig gegenüber.


Am Nichts muss also jedenfalls etwas dran sein: Es muss Etwas sein – und wenn nur
Gegenstand der Frage, was denn das Nichts ist.
Und dann wird auch noch dieses unendlich verwickelte Phänomen zum Gegenstand einer
Kunstausstellung! Nun hat der Künstler glücklicherweise der Versuchung widerstanden, es
sich einfach zu machen und sein Motto beim Wort zu nehmen. Josefh Delleg zeigt uns doch
Etwas – und zwar eine ganze Menge und durchaus Vielfältiges.
Aus NICHTS wird ETWAS: Das ist nicht nur die Umschreibung von Genesis 1, es ist auch
die Beschreibung dessen, was bei der Einrichtung einer Ausstellung geschieht – auch einer
Ausstellung wie dieser, selbst wenn sie das Nichts zum Leitmotiv hat.
Da bedarf es dann – wie ich glaube – durchaus einer Erklärung, wenn jemand das Nichts
thematisiert, dabei aber einiges an Etwas aufbietet. Eine mögliche Erklärung, die ich hier
versuchen möchte, geht davon aus, dass das Gezeigte in der Tat, wenngleich sehr vermittelt,
mit dem Nichts zusammenhängt. Die einzelnen Werkgruppen haben nichts miteinander zu tun

– bzw. sie haben über das Nichts miteinander zu tun; es ist ihr gemeinsames Bindeglied. Die
um den einen Satz gruppierte Kunstansammlung illustriert diesen jedoch keineswegs, sie
nimmt mit ihren verschiedenen Exponaten eher unterschwellig – und einigermaßen
hintergründig – Bezug.
Vermittelndes Element ist eine zentrale Kategorie der Arbeit Josefh Dellegs: das Serielle, das
Repetitive, die Wiederholung, Vervielfältigung und Addition von Einzelelementen. Zyklische
Prozesse im Kulturellen, im Sozialen wie im Politischen – das sind die Vorgänge, um die sich
das Werk des Künstlers seit jeher dreht. Seine Kunst ist geprägt von dieser Wiederkehr, in der
das Einzelne, eingebettet in eine Struktur von Wiederaufnahmen, zum Typischen und zur
Metapher für Existentielles gerät. Womit er sich in bester Gesellschaft befindet: „Es ist an der
Zeit, den Menschen als das Lebewesen zu enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht“,
hören wir zum Beispiel von Jean-Paul Sartre – von Peter Sloterdijks aktueller, groß angelegter
Übungs-Philosophie gar nicht zu reden.
Alle Teile der Ausstellung Josefh Dellegs konfrontieren uns also mit Leerläufen
unterschiedlicher Art: Durchgängiges Thema dieses Ensembles aus Installationen, Bildern
und Video ist die Kreisbewegung, das Zirkulieren und schließlich aufs Nichts Hinauslaufen.
„Was hat man für Mühe, sich das Nichts vorzustellen“, stöhnt – noch einmal – Sartre. Josefh
Delleg aber enthebt uns dieser Mühe, indem er uns zeigt, was wir uns unter dem Nichts
vorstellen können, was das Nichts beispielsweise alles sein kann:
Es kann sein, oder doch zumindest zum Ausdruck kommen in einer raumfüllenden
Bodenarbeit: in einer Anordnung von Leisten. Prototypen von Schuhwerk kommen wie in

militärischer Disziplinierung gleichgetaktet daher. Und die Schuh-Körper sind bedeckt mit
fragmentierten Landkarten, so als hätten sie Schritt für Schritt die erobernde und
zerstückelnde Landnahme in sich aufgenommen: Das Usurpierte klebt den Usurpatoren an
den Füßen. Diese Phalanx kommt aus dem Nichts, blind einherschreitend ins Nichts, wobei
das Ordnungsraster am Boden die Richtung vorschreibt, jeder Einzelne in den Fußstapfen des
Vorgängers, unmöglich ein Aus-der-Reihe-Tanzen. Im Gleichschritt der anonymen Formation
vollzieht sich der Aufmarsch der Staatsmacht. Schrittweise wird ein Territorium ausgemessen
und besetzt: die ewige Infanterie auf dem Vormarsch, kein Ende absehbar. Massen im
maschinellen Gleichtakt oder – wie bereits Ernst Moritz Arndt den preußischen Exerzierstaat
charakterisierte: „Übereinstimmung und Gleichbeweglichkeit des ganzen, totes
Maschinenleben ohne Gefühl, als das der Ehre, von einem Einzigen bewegt zu werden.“
Doch der Vorwärtsdrang wird ergänzt durch die Kreisbewegung: Die Kolonnen zeigen hin
und wider Flagge. Erfundene Fahnen noch nicht einmal erfundener Länder recken sich empor,
visuelle Hymnen, Logos fiktiver Nationalitäten zwar, aber irgendwie doch bekannt
vorkommend, denn nie sehr weit entfernt von den koloristischen Selbstdarstellungen real
existierender Staaten. Zaghafte Zeugnisse von Individualität regen sich also inmitten des
allgemeinen Fortschreitens. Doch selbst wenn hie und da das Individuelle hochgehalten wird,
so läuft es doch leer, rotiert es, leise surrend, folgenlos um sich selbst. Die Weltgeschichte –
als Geschichte territorialer Eroberungen unter wechselnden Parolen – wiederholt sich nach
dem selben Muster, sie kann gar nicht anders, wird sie doch hervorgebracht von Individuen,
denen die Lernfähigkeit im Schutz des Kollektivs regelmäßig abhanden kommt. Der
geordnete Fortschritt der Kommissstiefel, einmal in Marsch gesetzt, kennt keine Umkehr.
Diese Installation thematisiert also jenes Weitermachen entgegen alle Vernunft, das uns heute
allenthalben – nicht nur auf militärischem Sektor – zu schaffen macht. Denn Gleichschaltung
zum erstarrten System hat noch immer zu dessen Kollaps geführt: Vorwärts ins Nichts also…
In einem gänzlich anders aufgefassten Raum inszeniert Josefh Delleg sein Motto in Form
eines zirkulären Arrangements aus geheimnisvoll beleuchteten Objekten: So genannte
„Schabebänke“ sind es: Produktionsmittel zur Herstellung von Holzbündeln,
Gebrauchsgegenstände aus dem ländlichen Bereich seiner südtiroler Heimat, ein
alltagsgeschichtliches Auslaufmodell, über kurz oder lang in das Nirwana der toten
Gegenstände verschwindend, allenfalls noch in Einzelexemplaren dazu bestimmt, eine
nostalgische Rolle in Inszenierungen von Heimatmuseen zu spielen: in unserer Ausstellung
aber mit überzeitlichem, ja mystischem Charakter aufbereitet. Die handgreifliche Arbeit an
der Werkbank, die archaische, zum Lebensunterhalt immer wieder ausgeführte


Bewegungsabfolge einer vorindustriellen Produktionsweise hier in einer Rundinstallation
unendlich kreisend, vergeblich gegen ihre unvermeidliche Bedeutungslosigkeit
anargumentierend.
Einen nochmals anderen Aspekt des Zunichtewerdens hat Josefh Delleg im
Zweidimensionalen dargelegt: Übende Menschen beiderlei Geschlechts, eingebunden in ein
Ornament der Masse. Sportive Betätigung erscheint hier als Musterbeispiel permanenten
Exerzierens und auf stetige Verbesserung abzielenden Wiederholens ein und desselben
Bewegungsablaufs. Körpertraining als Selbstzurichtung mit gesellschaftlicher Brisanz: eine
Disziplinierung, die sich seit jeher ausgezeichnet eignet, von politischen
Ordnungsvorstellungen in Dienst genommen zu werden: die frisch-fromm-fröhlich-freie
Wettkampf-Ideologie als die Erzeugung von Kraft durch Freude, die dann, wenn sie (wie im
Dritten Reich, aber nicht nur dort) instrumentalisiert wird, die naiv Bewegten geradewegs in
den Abgrund des Nichts führt.
Und nochmals anders gewendet findet sich das Thema des Sich-tot-Laufens in Josefh Dellegs
Schädelstätten manifestiert: in jenem traditionellen Vanitas-Symbol, dem Hinweis darauf, wie
die Natur selbst sich in der zwanghaften Wiederholung des Ähnlichen zirkulär entwickelt. Die
geordneten Reihen der Totenköpfe – Sinnbilder des Lebens, das pausenlos sein Gegenteil
hervorbringt – demonstrieren das schrecklich unökonomische Vorgehen der
verschwenderischen Evolution: die hypothetische Unsterblichkeit der Gattung erkauft durch
den unendlichen Verschleiß an Individuen, die zum Zweck der Arterhaltung fortwährend
massenhaft ins Nichts entlassen werden. So wird das Bild zur Katakombe: Staub auf
Leinwand, verwischte Spuren auf dem Grabtuch, die unaufhörliche Verwandlung von Fleisch
und Blut in tote Materie: in ein Nichts das etwas ist, das wir (noch) Lebenden (noch) nicht
kennen…
Und schließlich das Fazit als unendliche Videoschleife: das liebe Vieh, das wunschlose
Herdentier, in sich selbst ruhend und gedankenlos (wie wir zu wissen glauben) seinen inneren
Mechanismen und Rhythmen hingegeben, hier (skandalöserweise) konfrontiert mit dem
frommen Gesang: die anfangs-und endlose Litanei des Wiederkäuens sattsam bekannter
Inhalte: Natur und Kultur – beide gefangen in der Falle der ewigen Wiederkehr des Gleichen,
günstigstenfalls sich wohlfühlend im Lichte einer Sonne, unter der es bekanntlich nichts
Neues gibt…
Wir sehen also: Auf sehr vielgestaltige Weise hat Josefh Delleg das doppelte Versprechen
seines Mottos doch noch eingelöst: Aus NICHTS wird ETWAS! – Aus ETWAS wird
NICHTS!


Und Letzteres ist schließlich irgendwann auch das Schicksal dieser (wie einer jeden)
Ausstellung. SEHEN Sie daher hin – solange da noch ETWAS ist!

Dr. Harald Kimpel